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Zu spät …

Das Bild hinter mir war der Anlass, dass ich die Kunst an den Nagel hängte und mich der Fotografie zuwandte, später der Typografie. Bei einem Korrekturdurchgang Anfang der 60-er Jahre standen auf dem Flur der Hochschule für bildende Künste an der Grunewaldstraße in Berlin, wo damals die Abt. 4, Kunst- und Werkpädagogik, untergebracht war, eine Reihe meiner quadratischen, informellen Bilder, alle 136 x 136 cm – 140 cm war der breiteste Nessel, den man damals in Berlin, im KaDeWe, kaufen konnte. Fünf der Bilder waren ultramarinblau und eines, von dem hier im Hintergrund ein Ausschnitt zu sehen ist, weiß. Fred Thieler (1916–1999), in dessen Klasse ich damals war, schritt wortlos an den Bildern entlang und sagte am Ende, wo das weiße stand, mit seiner tiefen, leicht krächzenden Stimme nur: »Ohh jaa, dann malen Sie mal noch ein paar weiße …«, kein Wort mehr. Ich hatte wochenlang an den Bildern gearbeitet. Das war’s – mit der Kunst.

In der Diskussion über die »Neue Typographie« spielt immer Kunst eine Rolle. Jan (damals Iwan) Tschichold schrieb in dem Heft elementare typographie, 1925, unter dem Titel ›Die neue Gestaltung‹: »Die Schöpfer der gegenstandslosen Malerei und des Konstruktivismus [haben] die Gesetze einer zeitgemäßen Typographie in praktischer Arbeit gefunden. Ähnliche Absichten wie die, die zur absoluten Malerei führten – Gestaltung aus elementaren Formen und Verhältnissen –, brachten, auf unser Gebiet angewandt, die Neue Typographie hervor. Sie baut »auf den Erkenntnissen auf, die die konsequente Arbeit des russischen Suprematismus, des holländischen Neoplastizismus und insbesondere die des Konstruktivismus vermittelte«. (S. 58)

Alexei Gan dagegen betont in seinem Buch конструктиви́зм (Konstruktivismus), Moskau 1922, immer wieder: »Tod der Kunst!«. El Lissitzky und Ilja Ehrenburg schreiben in dem ersten Doppelheft von Vešč/Objet/Gegenstand, Berlin 1922: »Aus der schwülen Dumpfheit des weißgebluteten Rußlands und des feistgewordenen, hindämmernden Europas tönt der Kampfruf: LASST DOCH ENDLICH ALLES DEKLARIEREN UND WIDERLEGEN! AUF! SCHAFFT ›GEGENSTÄNDE‹«.

In meinem Vortrag bei CreativeMornings/Berlin am 9. Oktober 2020 habe ich vergessen, den Zuhörerinnen und Zuhörern eine Frage mitzugeben: Wäre es heute vorstellbar, dass Kunst eine Quelle typografischer Gestaltung ist? Etwa der Balloon Dog von Jeff Koons, 1993, oder das Opernprojekt 7 Deaths of Maria Callas von Marina Abramovic, 2020?