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Großgörschen 35

Gerd Fleischmann

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Karl Horst Hödicke Kennedy, 1964
Mit freundlicher Genehmigung von K. H. Hödicke
Foto: Kai-Annett Becker, Berlin

Wer dachte bei Großgörschen 35, wie die legendäre Selbsthilfe-Galerie in Berlin-Schöneberg in der gleichnamigen Straße kurz genannt wurde, schon an die Gemeinde zwischen Leipzig und Weißenfels im Burgenlandkreis, heute Sachsen-Anhalt? Für West-Berliner war die DDR eine terra incognita, aber auch Westdeutsche konnten nicht einreisen. In der Schule blieb das Land ein weißer Fleck. Wenn es hoch kam, dann wurde die Wartburg im Religionsunterricht erwähnt. Dass daneben in Eisenach ab 1955 ein Auto mit dem gleichen Namen gebaut wurde, erfuhren wir als Schüler nicht. Die Schlacht bei Großgörschen am 2. Mai 1813, die im Französischen bataille de Lützen heißt, war die erste Schlacht der Befreiungskriege gegen Napoleon. So hat der Galeriename Symbolcharakter. Die 14 Berliner Künstler, die sich 1964 unter dem Dach von Großgörschen 35 zusammenfanden, wollten sich vom Diktat des Kunstmarktes befreien.

Die Adresse zwischen der Abt. IV der damaligen Hochschule für Bildende Künste (Kunst- und Werkerziehung) in der Grunewaldstraße, wo die meisten der Gründer studierten, und der Weinhandlung E & M Leydicke in der Mansteinstraße war zufällig. Wer die leer stehende Gewerbeetage im 2. Stock des rechten Seitenflügels des Hauses Großgörschenstraße 35 gefunden hat ist zwischen Markus Lüpertz und Klaus Märtens (Paul Viersen) bis heue ungeklärt. Lüpertz gehörte neben Ulrich Baehr, Hans Jürgen Burggaller, Hans-Jürgen Diehl, Johannes Dornhege, Karl Horst Hödicke, Franz Rudolf Knubel, Reinhard Lange, Dieter Opper, Wolfgang Petrick, Peter (Ben) Sorge, Arnulf Spengler, Lambert Maria Wintersberger und Jürgen Zeller zu den Gründern. »Paule« begleitete das Ganze als engangierter Chronist und hat heute ein reiches Archiv zur Galerie Großgörschen 35. Lorenz Frank (d. i. Gerd Fleischmann) hat in vielen Ausstellungen und für die meisten der Künstler fotografiert. Das war dann auch der Grund, dass er zusammen mit Franz Rudolf Knubel den Katalog zum einjährigen Bestehen der Galerie machte, Grossgörschen 35 Retrospektive 1964/65 Ein Jahr Großgörschen 35. Knubel hatte über das Autohaus der Familie in Münster Beziehungen zum Druckhaus Fahle (Münstersche Zeitung). Eine VW-Werbung auf Seite 1 finanzierte das Ganze. Reisekosten, Honorare und Royalties für die Fotos gingen in der Begeisterung unter.

Eduard Franoszek wäre gerne von Anfang an dabei gewesen, konnte aber aus Krankheitsgründen nicht. Später wurde er dann Mitglied und hat vom 15. Januar bis 5. Februar 1966 auch ausgestellt.

Als erster stellte Karl Horst Hödicke aus. Am Abend der Eröffnung am 16. Juni 1964 kam die Nachricht, dass er den Deutschen Kunstpreis der Jugend für Malerei erhält. Nach dem Auszug von Großgörschen 35 war der Raum sein Atelier und er wohnte auch da. Danach übernahm Jens Michael Barge die Räume.

Vom 22. Februar bis 27. Mai 2013 zeigte die Berlinische Galerie das Werk von Karl Horst Hödicke in allen Facetten, Zeichnungen, Malerei, Readymades, Skulpturen und Filme – den Kennedy wollte der Künstler da nicht sehen. An Großgörschen 35 –– 50 Jahre dachte dabei offenbar niemand. Für Hödicke war der Gipfel für diese Gruppe ohnehin mit der Teilnahme an der Ausstellung Stationen der Moderne : Die bedeutendsten Kunstausstellungen des 20. Jahrhundert in Deutschland im Martin Gropius Bau, 1998/1999, erreicht.

Die Reaktionen auf die Idee, nach 50 Jahren an Großgörschen 35 zu erinnern, waren unterschiedlich. Die erfolgreichen Gründer wollen natürlich eher unter sich bleiben und nicht zusammen mit den vielen ausstellen, die über die Jahre dazu kamen, bis Lothar Poll 1967/1968 die Geschäfte übernahm. Die Galerie (Eva) Poll vertritt noch heute viele der Künstler. Und dann sollte es eine Ausstellung werden an erster Adresse.

Eine wunderbare und heitere Idee von Klaus Märtens, am 16. Juni 2014 die Straße vor dem Haus Großgörschenstraße 35 zu sperren und eine große Geburtstafel aufzubauen und alle kommen – ohne Kunst, fiel durch.

2014 wird in Berlin ein anderer fünfzigster Geburtstag gefeiert: Am 15. September 1964 eröffnete René Block seine Galerie im Souterrain des Hauses Frobenstraße 18, nachdem er zunächst mit seinem Grafischen Kabinett in der Wohngemeinschaft mit Dieter Ruckhaberle in der Kurfürstenstraße in Berlin angefangen hat, wo heute der Straßenstrich ist.